Einmal Hauptstadt für 50 Preisträger (Aus Mitteldeutscher Zeitung, Naumburger Ausgabe vom 10.4.2012)

VON HELGA HEILIG

BERLIN/ROSSBACH- Dass rund ein Fünftel der Roßbacher Einwohner eine politische Bildungsreise nach Berlin geschenkt bekommen haben, ist dem Wenzelspreis des Naumburger Tageblatt/MZ geschuldet. Vor einem Jahr wurde erstmals mit dem Wenzelpreis nicht nur eine Person, sondern gleich ein ganzes Dorf geehrt (Tageblatt/MZ berichtete). Das war dem Bundestagsabgeordneten Roland Claus (Die Linke), der zur Verleihung eingeladen war, nicht bekannt. Er hatte eine Flasche Wein mitgebracht, die er dem neuen Wenzelspreisträger überreichen wollte. "Eine Flasche für 289 Einwohner des Weindorfs, das hätte mehr als komisch ausgesehen", so Claus. Deshalb hat er kurzentschlossen die Roßbacher zu einem Besuch nach Berlin eingeladen. Sein Versprechen hat der Bundestagsabgeordnete Anfang April wahr gemacht.

"Wir hätten gut und gerne drei Busse benötigt, für alle, die mitfahren wollten", meinte Ortsbürgermeister Jürgen Spielberg. Letztlich musste wohl das Los entscheiden. Dann reisten 50 Auserwählte aus drei Generationen in die Bundeshauptstadt. Nahezu überwältigend war der Empfang: Über 27 000 Menschen waren in den Hauptstraßen auf den Beinen. Allerdings nicht, um die Roßbacher zu begrüßen, sondern um sich im Halbmarathon zu messen. Viele gesperrte Straßen sorgten für etliche Minuten Verspätung im straff organisierten Besuchsprogramm, aber die disziplinierten Roßbacher holten sie durch einen Schnelldurchlauf der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum wieder auf.

Weiter ging es nach einer Stärkung mit der Stadtrundfahrt durchs Regierungsviertel, und so mancher, der sich die vergangenen rund 20 Jahre nicht in Berlin hat blicken lassen, staunte Bauklötze über die kolossalen Prachtbauten. Der berühmte Kurfürstendamm war das Ziel am späten Nachmittag. Hier galt es wieder eine Ausstellung zu besuchen: "The Story of Berlin". Sie bietet unter anderem auch den Abstieg in einen Atomschutzbunker, der tausenden Menschen Platz bietet und der in den 70er Jahren gebaut wurde.

Als am Abend für die inzwischen reichlich pflastermüden Roßbacher kräftige Rindersteaks serviert wurden, kam Bundestagsabgeordneter Roland Claus dazu. An der Hotelbar informierte er anschließend in Stichworten über seine Arbeit im Bundestag. Am nächsten Morgen war nach einem Besuch im Plenarsaal des Reichstags dafür etwas mehr Zeit vorgesehen. Im Bundestag gelte er allgemein noch als politischer Anfänger, da er derzeit "erst" in der dritten Wahlperiode ein politisches Mandat trage, so Claus. Danach gab er einige Eckpunkte aus seiner Arbeit im Haushaltsausschuss bekannt. "Ich habe das Rechnen studiert", erklärte er. Wenn es um die Finanzen geht, dürfe man den Blicks fürs Ganze nicht verlieren, setzte er hinzu. "Einnahmen und Ausgaben müssten möglichst übereinstimmten", so nüchtern sieht er das. Sein Motto zeugt von praktischen Realitätssinn: "Wer gegen etwas protestiert, muss auch Alternativen, die von dieser Welt sind, aufzeigen". Als Ostkoordinator seiner Fraktion habe er sich vor allem die Angleichung der Renten und Gehälter auf die Fahne geschrieben. Aber auch Themen, die in seinem Wahlkreis unter den Nägeln brennen, gehe er an. Claus nannte als Beispiel die neue ICE-Trasse von München nach Berlin. Davon habe Naumburg nichts - im Gegenteil. Geht sie in Betrieb, fallen nicht nur in Naumburg, sondern auch anderen Städten der Umgebung die Bahnschnellverbindungen weg. Deshalb sei seine aktuelle Aufgabe, in Abstimmung mit den Kommunalpolitikern vor Ort, auf Fernbahnanbindungen zu drängen. "Es geht darum, jetzt die Weichen dafür zu stellen", erläuterte Claus. Zum Thema führt er am 3. Juni Gespräche mit mit Oberbürgermeistern und Planern. "Die Bahn erhält vom Bund 2,5 Milliarden Euro jährlich", informierte der Bundestagsabgeordnete. Anderes Thema: Umgehungsstraße für Naumburg und Bad Kösen. Die Meinung von Claus dazu: "Die Umgehung darf nicht nur für Bad Kösen, und damit nur halb gebaut werden."

Was bislang kaum jemand wusste, Roland Claus ist Mitglied im Parlamentarischen Weinforum, und lässt nach eigener Aussage in diesem Gremium keine Gelegenheit aus, um für die regionalen Weine zu werben. Zu seinen Aufgaben im Finanzmarktgremium meinte er: "Bankenrettung ist so ein bisschen wie Strafarbeit." Es sei bitter, dass 30 Milliarden über die Theke gereicht werden mussten. Trotzdem sei es spannend mit den Finanzen, denn alles, was irgendwie mit Geld zu tun hat, gehe durch den Haushaltsausschuss. Das Resümee des Bundestagsabgeordneten: "Leider sind wir noch nicht aus der Krise raus." Er verriet sein persönliches Unwort: alternativlos. Und einige Alternativen zählte er auf, die dazu führen könnten, die Schulden der Bundesrepublik Deutschland erheblich zu minimieren. Sie umzusetzen sei aber nur möglich, wenn Die Linke nicht in der Opposition säße, sondern regieren könnte.

Sichtlich beeindruckt vom eben Gehörten ging es im Anschluss in den Lift, der die Roßbacher in die Kuppel des Reichstags beförderte. Dort wurde Aufstellung genommen fürs Gruppenbild. Das Panorama der Großstadt zog die Roßbacher auf dem Weg in den oberen Teil der Kuppel in den Bann. Am Schluss der Reise stand der Besuch des Bundesratsgebäudes auf dem Programm. Seit August 2000 präsentiert sich das Haus als moderner Parlamentssitz, dessen Architektur Geschichte und Gegenwart verbindet. Auf der Heimreise gab es genügend Zeit, das Erlebte reflektieren zu lassen.