»Wir haben uns ihnen weggenommen« - Hundert Jahre Oktoberrevolution

Wolfram Adolphi

aus DAS ARGUMENT 321/2017

DAS ARGUMENT 321/2017 ©
Wolfram Adolphi
»Wir haben uns ihnen weggenommen« Hundert Jahre Oktoberrevolution


Im Sommer 1989, in der von Erstarrung geprägten Endzeit der DDR, sagte der Schriftsteller Hermann Kant, als er nach der in Westdeutschland herrschenden Genugtuung über diese Erstarrung befragt wurde, dass er sich darüber nicht wundere, denn: »Wir haben uns ihnen weggenommen – sie wollen uns wiederhaben!« (2009, 178) Einhundert Jahre nach dem Beginn des großen, die Welt verändernden Sich-Wegnehmens »haben sie uns wieder«. Jedenfalls in Europa. Und in vielen anderen Teilen der Welt auch.


Es ist unendlich viel – und unterschiedlichem Klasseninteresse entsprechend diametral Gegeneinanderstehendes – gesagt und geschrieben worden über Erreichtes und Nichterreichtes, Verschwundenes und Fortdauerndes. Einerseits Umsturz der Eigentumsverhältnisse, Industrialisierung, Alphabetisierung, Kultur- und Bildungsrevolution, Dekret über den Frieden, Sieg über den deutschen Faschismus, Mitbegründung der UNO, ihrer auf Frieden gerichteten Charta und ihrer universalen Erklärung der Menschenrechte, Mitgestaltung des Systems der Europäischen Sicherheit in den 1970er Jahren, Perestroika – andererseits Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, stalinistischer Terror, Gulag-System der Unterdrückung und Zwangsarbeit, diktatorische Disziplinierung der verbündeten Staaten und Parteien, Einschränkung der individuellen Freiheiten. Ein eigenes Kapitel wäre der revolutionären Welt-Wirkung zu widmen, darunter – im Rahmen des fundamentalen Einflusses auf die antikolonialen Befreiungsrevolutionen und -bewegungen insgesamt – wegen ihrer Dimension und Nachhaltigkeit insbesondere der chinesischen Revolution in ihrer Wechselwirkung mit der russischen 1905-1911-1917-1925/27 und noch einmal 1949, in ihrer engen Verbundenheit mit der sowjetischen Entwicklung 1949–1958, in der darauffolgenden Kontrastellung bis 1976, in der Entwicklung eines eigenständigen Weges seit 1978, in der Wechselwirkung mit der Perestroika 1985–1989 und im Prozess des Lernens aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion im als »Sozialismus chinesischer Prägung« bezeichneten Weg seit 1990.


Auf der Suche nach einem Pfad, der geeignet ist, die Fülle des zu diskutierenden Materials zu ordnen und zu bändigen, ist eine Überlegung Walter Benjamins aus den 1940 im Exil verfassten Thesen Über den Begriff der Geschichte hilfreich: »Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt« (GS I.2, 695). Leben wir 100 Jahre nach der Oktoberrevolution in einem neuen »Augenblick der Gefahr«? Die Zeichen sind übermächtig. Und umso dringlicher jede Anstrengung, »die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen« (ebd.).

Das Bild vom Sich-Weggenommen-Haben regt zu solcher Anstrengung an. Es öffnet eine Perspektive, die nicht so sehr auf die Revolution selbst, sondern auf die andere Seite gerichtet ist: auf diejenigen, denen etwas weggenommen worden war. Es spiegelt sich in ihm die Erfahrung, dass es diesen immer um das Wiederhaben ging, und zwar unabhängig davon, wie sich das Sich-Wegnehmen im Einzelnen vollzogen hatte. Ob es durch ein Aufbegehren geschah wie im Falle der Pariser Kommune 1871 oder durch eine Revolution wie die russische 1917, durch im Gefolge des Sieges der Sowjetunion möglich gewordene Umgestaltungen im Resultat des Zweiten Weltkrieges wie in Osteuropa nach 1945 oder durch revolutionäre Prozesse, in denen sich soziale Auseinandersetzungen, nationale Befreiungskämpfe und Zweiter Weltkrieg miteinander vermischten wie in China, Korea und Vietnam, durch antikoloniale Verstaatlichungsmaßnahmen wie im Iran 1951–53 oder durch einen demokratisch herbeigeführten Machtwechsel wie in Chile 1970–73: Der kapitalistische Machtblock reagierte mit unterschiedlichen Mitteln, aber im Kern immer gleich. Stets galt es ihm als legitim, die alten Besitz- und Machtverhältnisse möglichst rasch wiederherzustellen, und stets als legitim galt ihm dabei auch die Anwendung von Gewalt.


Ob und wie er die Gewalt einzusetzen wagte und vermochte, hing vom jeweiligen Kräfteverhältnis ab. So blieb der sowjetisch-osteuropäische Sozialismus dank seiner militärischen Stärke von direkten Angriffen verschont; das sozialistische Vietnam wurde 1965–75 mit Krieg überzogen; der demokratische Umbruch in Chile 1973 in einem blutigen Putsch erstickt; und der Sozialismus jugoslawischer Art, wie er sich von 1948 an als Alternativentwurf zum sowjetischen ausprägte und als solcher im Westen verschiedentlich gepriesen wurde, starb in den 1990er Jahren in einer Serie von Bürgerkriegen, an deren Entfachung der Westen mit seinem Interesse an einem raschen Zerfall des Landes, das in der schließlichen Kriegsteilnahme der NATO seinen direktesten Ausdruck fand, erheblichen Anteil hatte.1


Das Bild vom Sich-Weggenommen-Haben: Es artikuliert sich in ihm auch die Schwäche der Position, in der sich die Revolutionäre im Weltmaßstab trotz ihrer zeitweiligen Siege und Erfolge immer befanden. Das Sich-Wegnehmen kann noch keine Führung begründen. Beabsichtigt war mit der Oktoberrevolution freilich etwas ganz Anderes: Der weltweite Umsturz der Verhältnisse. Der menschheitliche. Der die ganze Menschheit betreffende.


Wie steht es jetzt mit der Menschheit? Im Angesicht eines Wiederhabens, das gleichbedeutend ist mit einer Befreiung des Kapitalismus von jener Einhegung, wie sie seit 1917 mit dem Wettbewerb und der Konfrontation der Systeme verbunden war?

Das Wiederhaben legitim?

Das Wiederhaben legitim, das Sich-Weggenommen-Haben illegitim? Fast will es 100 Jahre nach der Oktoberrevolution so scheinen. Denn es gab, als 1989/91 der befehlsadministrative Sozialismus sowjetisch-osteuropäischer Prägung zusammenbrach,

1 Vgl. Das Argument 317 (3/2016) mit dem Titel »Das jugoslawische Projekt«.

nicht nur die Genugtuung der Wiederhabenden, des kapitalistischen Machtblocks, sondern auch ein gewaltiges Aufatmen vieler anderer Gesellschaftsgruppen. Das Aufatmen zuallererst der Opfer dieser Diktatur, für die der Zusammenbruch endliche Befreiung war. Dann das derjenigen in den erstarrten Gesellschaften, die, ohne den Weg der Opposition gewählt zu haben, den Sozialismus ›aus sich selbst heraus‹ ändern wollten mit dem Ziel seiner Weiterentwicklung und Stärkung. Weiter ein Aufatmen überall in der Welt, weil der Systemkonflikt zwischen Sozialismus und Kapitalismus, geographisch sich darstellend als Ost-West-Konflikt, beendet war und damit auch die mit ihm verbundene Kriegsgefahr gebannt schien. Und schließlich das Aufatmen der Linken im Kapitalismus, die, da sie nun befreit war von der Last ihrer Verbindung mit diesem Sozialismus, neue – bessere – Möglichkeiten für ihre gesellschaftlichen Kämpfe heraufkommen sah.


Kein Zweifel: Der Sozialismus sowjetisch-osteuropäischer Prägung hat sich als Sackgasse erwiesen. Und dennoch ist die Menschheit Anfang des 21. Jahrhunderts nicht nur nicht ›erlöst‹, sondern Bedrohungen ausgesetzt, die in gegenseitig sich durchdringender Weise so gewaltig sind, dass die Selbstzerstörung nicht mehr nur möglich, sondern wahrscheinlich scheint. Es sind diese Bedrohungen erstens der Krieg mit seinen neuartigen Mischformen aus ›konventionellem‹ Krieg, Terror und wiederum Krieg gegen den Terror, die über ihre stetige zerstörerische Wirkung hinaus jederzeit die Gefahr der Eskalation in einen Atomkrieg in sich bergen; zweitens die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen; drittens die Vertiefung der sozialen Klüfte und Spannungen; viertens die Tendenz zu Demokratieabbau und Autoritarismus; und fünftens die Unbeherrschbarkeit des wissenschaftlich-technischen ›Fortschritts‹.


Dieser Befund ist nicht nur ›an sich‹ dramatisch; er ist es auch historisch, denn er ist verbunden mit einem zweiten: Der westliche Kapitalismus steht in der Frage der Weltbeherrschung dort, wo er auch vor der Oktoberrevolution schon stand. Er diktiert auch jetzt – wie damals – den Gang der Welt. Weshalb sein damaliges Diktat wieder in Erinnerung gerufen werden muss als dasjenige, das in zwei große – wiederum gegenseitig sich durchdringende – Katastrophen mündete: erstens die ›punktuelle‹ des Ersten Weltkrieges; und zweitens die lang andauernde der die Gesellschaft spaltenden ›normalen‹ Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter und zugleich der kolonialen Unterwerfung der Mehrheit der Völker.


Es waren diese beiden Katastrophen, die das revolutionäre Aufbegehren erst hervorbrachten. Und eine Selbstzerstörungsgefahr sichtbar machten, die – auch wenn sie im Rückblick schwächer erscheinen mag als die heutige – in ihrer apokalyptischen Potenz mit Klarheit erkannt wurde. »Die letzten Tage der Menschheit« sah Karl Kraus kommen im Angesicht des Weltkrieges und in der Ahnung, dass der Krieg »nicht aufhören« werde (1915–1921/1986, 659). Vom Krieg als einer »aufs fürchterlichste sich bekundenden«, »nie erhörten Vermählung mit den kosmischen Gewalten« schrieb Walter Benjamin 1928 – »Menschenmassen, Gase, elektrische Kräfte wurden aufs freie Feld geworfen, Hochfrequenzströme durchfuhren die Landschaft, neue Gestirne gingen am Himmel auf, Luftraum und Meerestiefen brausten von Propellern, und allenthalben grub man Opferschächte in die Muttererde« – und davon, dass darin »die Technik die Menschheit verraten und das Brautlager in ein Blutmeer verwandelt« habe (GS IV.1, 147). Bei ihm aber auch der Ausweg: In den »Vernichtungsnächten« des Krieges habe den »Gliederbau der Menschheit ein Gefühl [erschüttert], das dem Glück der Epileptiker gleichsah«, und »die Revolten, die ihm folgten«, seien »der erste Versuch« gewesen, »den neuen Leib in ihre Gewalt zu bringen«; die »Macht des Proletariats« werde »der Gradmesser seiner« – des Gliederbaus der Menschheit – »Gesundung« sein (148).

Die »Revolten« der »erste Versuch«. Die »Gesundung« jedoch nicht die erhoffte, die »Macht des Proletariats« durch die Umstände eine andere als die von Marx und Engels und Rosa Luxemburg aus der Geschichte als Möglichkeit hergeleitete. Sieg der Revolution nicht dort, wo sie durch die Entwicklung der Produktivkräfte und die Reife der Arbeiterklasse erheischt gewesen wäre, sondern dort, wo – wie Lenin richtig erkannte – die Widersprüche der Welt sich zum Knoten schürzten: in Russland. Die Tragik von Anfang an: dass die westliche Revolution – die ›richtige‹, ›logische‹ – der östlichen nicht folgte, sondern ausblieb. Infolgedessen die Oktoberrevolution nicht – wie von den Revolutionären erhofft – Teil eines beginnenden, rasch sich realisierenden Weltprozesses, sondern das isoliert bleibende Sich-Wegnehmen. Worauf der westliche Machtblock von Beginn an mit äußerster Aggressivität reagierte: mit militärischer Intervention, Wirtschaftsboykott, ideologischem Kampf, außenpolitischer Isolierung. Und: mit je unterschiedlich scharf praktizierten ›inneren‹, oft in blutigen Terror umschlagenden Unterdrückungsmaßnahmen gegen alle, die dem russisch-sowjetischen Weg in welcher Form auch immer zu folgen unternahmen. Ein Kampf, gipfelnd in der Errichtung des nazi-faschistischen Regimes in Deutschland.
Diese Reaktion legitim? Oder zuerst legitim – und irgendwann nicht mehr? Aber wo liegt die Grenze, was markiert den Übergang? Und was ist für die heutige Menschheit aus all dem lernbar?

Die »weggenommene« Selbstkritik

Im großen Aufatmen der Jahre 1989/91 schien es, als sei jetzt ein Raum entstanden, in dem – weil die Konfrontation der Blöcke beendet war – sich ein die Grenzen der Klassen und Nationen übergreifender menschheitlicher Lernprozess vollziehen könnte. In der Erschütterung des Bekanntwerdens – und Sich-Bewusst-Werdens – des ganzen Ausmaßes der stalinistischen Verbrechen in der Sowjetunion in den 1930er/1940er Jahren und der bis ins Ende der 1980er Jahre reichenden Ausläufer stalinistischer Herrschaft im gesamten sowjetischen Einflussbereich schrieb Tschingis Aitmatow im Dialog mit Daisaku Ikeda, dass angesichts all dessen die Frage »War denn die Revolution notwendig?« »noch leichter« falle (1992, 312).
Und tatsächlich hat diese Frage in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren Hochkonjunktur gehabt. Hätte Lenin angesichts der Schwäche des russischen Proletariats überhaupt ein revolutionäres Programm entwickeln und eine revolutionäre Partei formieren dürfen? Hätte er – wenn es denn schon eine Revolution sein musste – nicht nach der Februarrevolution aufhören müssen? Weil die Oktoberrevolution doch ›logisch‹ – und insofern auch ›voraussehbar‹ – in den Stalinismus führte? Aitmatow wusste freilich selbst: »Historie im Konjunktiv gibt es nicht.« (Ebd.)

Aber das tut der Konjunktur dieser Fragen keinen Abbruch. Sie speist sich aus zweierlei. Zum einen aus der in der Geschichte wohl einmaligen Selbstkritik der Besiegten. Sie kam ja nicht nur in irgendwelchen Dokumenten zum Ausdruck. Nein: Die von Michail Gorbatschow 1985 initiierte Perestroika, wie sie einherging mit dem einseitigen Verzicht sowohl auf weitere Aufrüstung als auch auf den Fortbestand des sowjetischen Herrschaftsbereiches in Osteuropa: Sie war eine gesamtgesellschaftliche antistalinistische Selbstkritik der Tat, und sie setzte sich fort in der fast durchgängig friedlichen Selbstaufgabe der osteuropäischen Machtsysteme. In diesem Prozess wurde – die Sackgasse erkennend – das Sich-Weggenommen-Haben von innen heraus in Frage gestellt. Und als es beendet war, setzte sich die Selbstkritik fort in einer Geschichtsarbeit der Linken, die sich – womit die zweite Quelle der Konjunktur benannt ist – in einer wiederum wohl einmaligen Weise mit der Kritik der Sieger verbindet. Am Ende scheint es, als gebe es das tatsächlich: eine einhellige, alle Klassen und Schichten vereinende Ablehnung der untergegangenen Sozialismusform.


Die im Zuge der Herausbildung dieser Einhelligkeit zum größten Feind der Menschheit selbst mutiert.
Nur: Es gibt ihn nicht mehr, diesen scheinbar größten Feind; er ist besiegt; die Revolutionen, die ihn hervorbrachten, sind rückgängig gemacht. Und dennoch – und stärker als je – ist die Menschheit existenziell bedroht. Im Angesicht dieses so offensichtlichen Widerspruchs muss Vieles neu justiert werden. Auch die Selbstkritik. Nichts ist gewonnen mit einer »Geschichte im Konjunktiv«, aber nichts auch mit einer Kritik, die menschheitliche Wechselbeziehungen auf Einseitigkeiten reduziert.


Jedenfalls nichts für die Menschheit. Für die Betreiber der Einseitigkeit und die sie tragenden Interessenlagen schon. Aber dieser Unterschied muss neu herausgearbeitet werden. Denn er wird seit einem Vierteljahrhundert auf immer neue Weise – selbstverständlich interessengeleitet – übertüncht. Die Methode ist: Den Kräften der Revolution, der Veränderung gilt unnachsichtige Kritik. Denn der Angriff aufs Privateigentum an Produktionsmitteln ist in dieser Lesart per se eine Untat. Den Kräften des Bewahrens hingegen – des Bewahrens dieses Privateigentums und der
zu seinem Schutz und seiner Stabilisierung geschaffenen Verhältnisse – gilt, was auch immer von ihnen an Katastrophen heraufbeschworen und ausgelöst worden sein mögen, Nachsicht. Eine Nachsicht, die nicht treffender formuliert werden kann als in diesem in der Zeitung junge Welt am 17. Januar 2017 als »Satz des Tages« apostrophierten Kommentar des Wirtschaftsredakteurs der FAZ Philip Plickert zum Oxfam-Bericht, wonach allein acht Multimilliardäre mehr besitzen als die ärmere Hälfte der Menschheit: »Aber ist ihr Reichtum verwerflich oder moralisch anstößig?
Die meisten an der Spitze der Forbes-Liste haben ihre Vermögen durch unternehmerische
Aktivitäten in Rechtsstaaten und Marktwirtschaften erworben.«


Die kommunistische Selbstkritik: Sie bleibt unverzichtbar. Der stalinistische Sozialismus, der einerseits eine beispiellose Industrialisierung Russlands verwirklichte und Millionen Menschen Perspektiven bot, die sie zuvor nie gehabt hatten, hat zugleich die Selbstentfaltung anderer Millionen Menschen behindert, hat sie im Falle des massenhaften Terrors in der Sowjetunion überhaupt unmöglich gemacht, hat Entwicklungspfade abgeschnitten. Aber wenn die Zukunft der Menschheit zur Debatte steht, muss auch im Rückblick menschheitlich gedacht und beurteilt werden: Der Stalinismus hat dies nicht in einem aus der übrigen Welt ausgeschiedenen Raum getan.

Es war immer Wechselwirkung. Es war in einem Raum des Sich-weggenommen- Habens, aber auch in einem, auf den aggressiv eingewirkt wurde. Es ist im bürgerlichen Mainstream nicht üblich, solche Zusammenhänge zu benennen. Es ist zwar üblich, den Kommunisten klarzumachen, dass es Unsinn sei, an eine planmäßige Gestaltbarkeit der gesellschaftlichen Entwicklung zu glauben, aber zugleich wird ihnen eine Verantwortung für ihr Handeln zugeschrieben, die eine solche – gerade noch als unsinnig apostrophierte – planmäßige Gestaltbarkeit als Realität zur Voraussetzung hat. Ist dieser Schritt gemacht, ist das Handeln der Akteure im Kapitalismus umso leichter als von den Verhältnissen getrieben zu charakterisieren – und ihnen damit eine weitaus geringere eigene Verantwortung als den Kommunisten zuzugestehen. Beispiele dafür mögen die Hungersnöte im 20. Jahrhundert sein. In der Sowjetunion und China sind sie in der vom Mainstream geschriebenen Geschichte üblicherweise Resultat nationalen diktatorischen Handelns, in Indien, Afrika, Lateinamerika hingegen Resultat allgemein unglücklicher und im Grunde unbeeinflussbarer Umstände.

In der kommunistischen Selbstkritik nimmt die Konzeption vom »Sozialismus in einem Land« eine zentrale Rolle ein. Es klingt in dieser Kritik oft so, als habe die Führung in den 1920er Jahren eine Fülle von Möglichkeiten gehabt und die schlechteste gewählt. So, wie schon der Eindruck vermittelt wird, Lenin habe nach der Februarrevolution 1917 eine Fülle von Möglichkeiten gehabt, unter denen er sich für die schlechteste entschieden habe. Was für alternative Wege hielt die geschichtliche Situation bereit? Welche parlamentarische Demokratie mit Rechts- und Sozialstaatsprinzipien könnte es gewesen sein, die im Sommer 1917 vorbildhaft auf Russland hätte ausstrahlen können? Es gab keine. Es waren alle in den Krieg gezogen und hatten ihre Demokratie zum Instrument der Kriegshetze und der Konditionierung ihrer Völker für ein bis dahin nicht gekanntes Massenschlachten gemacht. Großbritannien und Frankreich waren zudem Kolonialmächte, in deren Reich schlimmste Ausbeutung und rassistische Unterdrückung herrschte.

Und welche innerrussischen Verhältnisse tendierten zu dem, was man parlamentarische Demokratie hätte nennen können? Ebenfalls keine. Und als die Sowjetunion dann existierte und isoliert dastand: Welche parlamentarische Demokratie bot ihr da Hilfe und Zusammenarbeit an, um aus der Isolation herauszukommen? Welche konnte und wollte da tätiges Vorbild sein? Damit zum Beispiel in der Sowjetunion durch Handel und Zusammenarbeit jene Kräfte gestärkt würden, die im Inneren die Gefahren der Stalinherrschaft erkannten und eine andere Politik wollten?


Für die Kritik an Lenin in der Revolution ist Rosa Luxemburg eine Kronzeugin. Das ist für die kommunistische Selbstkritik von großer Bedeutung. Es ist verlockend – und manchmal vielleicht auch tröstend –, sich vorzustellen, Rosa Luxemburgs Konzeption einer von den Massen getragenen, aus den Kämpfen der Massen von unten sich entwickelnden Revolution hätte in der russischen Revolution – und dann vor allem in der deutschen! – sich verwirklichen können. Dieses Erbe ist für das künftige Handeln der nach Veränderung Strebenden unverzichtbar. Aber die im wahrsten Sinne des Wortes blutige Realität war, dass Rosa Luxemburg wie auch Karl Liebknecht von der Konterrevolution zielgerichtet – als Endpunkt einer über viele Tage hinweg sich steigernden, von allen im November 1918 in Verantwortung gelangten sozialdemokratischen Politikern registrierten und nicht verhinderten Hetz- und Rufmordkampagne – umgebracht wurden, und es spielte für diese Konterrevolution ihre Kritik am rigiden Vorgehen Lenins keinerlei Rolle. Eine Rolle spielte einzig und allein, dass mit ihr auch in Deutschland die Gefahr für den bürgerlich-feudalen Machtblock bestand, dass sich das Volk ihm »wegnehmen« würde. Die Form des Sich-Wegnehmens war dem Machtblock egal. Damals schon – und in der Folge immer wieder. Die blutige Zerschlagung der sich immer wieder dem öffentlichen Votum stellenden, die von Rosa Luxemburg eingeforderte Freiheit der Andersdenkenden garantierenden Volksfrontregierung in Chile 1973 ist dafür ein besonders herausragendes Beispiel. Die Regierung der Unidad Popular war auch ein Resultat kommunistischer Selbstkritik. Das hat den bürgerlichen Machtblock ebenso wenig interessiert wie die Wahlentscheidung des chilenischen Volkes.


Die Auseinandersetzung mit den stalinschen Verbrechen zeigt, wie schwierig es ist, zu einem Ergebnis zu gelangen, von dem aus heute ein Weiterdenken – und Handeln! – möglich ist. Zu groß waren die Verbrechen, zu zerstörerisch der auch mit der »Einkreisung« begründete Terror Stalins, als dass da noch Anderes bleiben könnte als schärfste Verurteilung. Denn wäre das Andere nicht per se schon Rechtfertigung? Die Frage steht, aber sie löst das Problem nicht. Als Egon Bahr in den 1960er Jahren seine Politik des »Wandels durch Annäherung« konzipierte, tat er es auch in dem Bewusstsein, dass damit die inneren Kräfteverhältnisse in den realsozialistischen Ländern verändert werden könnten – und er behielt Recht. Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Helsinki 1975), an der damals selbstverständlich auch die Sowjetunion – und die außereuropäischen Staaten USA und Kanada – teilnahmen, enthielt im gemeinsamen Maßnahmenkatalog neben den Vereinbarungen zur Friedenssicherung und zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit einen »Korb 3«, der die Verpflichtung zur kulturellen Zusammenarbeit und wachsenden Freizügigkeit enthielt. Im Resultat wurden in den realsozialistischen Ländern die auf Veränderung drängenden Kräfte gegenüber denjenigen gestärkt, die auf Beharrung, Konfrontation und rigide Machtsicherung setzten.


Die Situation in den 1920er/1930er Jahren war völlig anders. Es gab unabhängig von Stalins daraus entwickelter Politik die Erfahrung der Interventionskriege der Jahre 1918–1921, in denen die imperialistischen Mächte von allen Seiten in Sowjetrussland eingefallen waren, sich mit den inneren konterrevolutionären Kräften verbündet hatten und in einem viele Millionen Menschenleben fordernden Kampf das Territorium, auf dem die Bolschewiki herrschten, zeitweilig auf ein Fünfzehntel desjenigen des zaristischen Russlands reduziert hatten. Und es gab den in unverblümter Offenheit vorgetragenen Plan Hitlers, gegen die Sowjetunion zu ziehen – in einem Feldzug sowohl gegen die »jüdisch-bolschewistische Herrschaft« wie auch gegen das »slawische Untermenschentum«. Es gab in der Sowjetunion viele, die die davon ausgehende Bedrohung ernst nahmen und internationale Bündnisse zur Verhinderung der Nazi-Pläne zu schmieden versuchten, aber diesem Moskauer Ernstnehmen stand in den Machtblöcken in Deutschland (bis 1933) und in Westeuropa eine langanhaltende Unterschätzung des die Menschheit bedrohenden Potenzials Nazi-Deutschlands gegenüber. Wie übrigens auch des japanischen Militarismus, der sich an der sowjetischen Ostgrenze formierte, 1936 im Antikominternpakt mit Nazi-Deutschland ein Bündnis einging und durch fortwährende Kriegshandlungen zunächst gegen China, 1938/39 aber auch gegen die Sowjetunion eine Zwei-Fronten-Kriegs-Situation herbeiführte. Es gibt keine Geschichte im Konjunktiv. Sehr wohl aber darf, wo die Frage nach der Berechtigung der Oktoberrevolution aufgeworfen wird, auch die Frage gestellt werden, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Sowjetunion unter anderen internationalen Bedingungen entwickelt hätten.


Welche der heutigen Menschheitsbedrohungen wird kleiner durch ein Versprechen, nie wieder Sozialismus in einem Land zu errichten? Keine. Denn die Verhältnisse, unter denen eine derartige Entwicklung möglich war, werden nicht zurückkehren. Wohl aber ist die Frage dringlich, die Bertolt Brecht 1935 im antifaschistischen Exil stellte, »wie […] jemand die Wahrheit über den Faschismus sagen [will], gegen den er ist, wenn er nichts gegen den Kapitalismus sagen will, der ihn hervorbringt« (1993, GA 22.1, 78), und ebenso das von Max Horkheimer 1939 im gleichen Sinne entwickelte Diktum: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.« (1988, GS 4, 308f)

Die »weggenommene« Dissidenz

Zu den Charakteristika des Wiederhabens zählt, dass der Mainstream sich kaum noch der Stimmen derjenigen erinnert, die, als sie dem befehlsadministrativen Sozialismus als »Feinde« galten und sich, solange sie in ihm lebten, öffentlich nicht mehr äußern durften, im Westen ihrer oppositionellen Haltung wegen gefeiert wurden. Im Jahre 1990, der Zeit des Aufatmens und der weltweit aufwallenden Hoffnung auf eine Änderung der Weltordnung, versammelte Andreas Giger in einem schmalen Band einige dieser Stimmen gemeinsam mit herausragenden Zeugnissen verwandten Denkens westlicher Politikerinnen und Politiker. Das Buch liest sich im Jahre 2017 wie eine ferne Utopie.


Da ist die Stimme des Kernphysikers Andrej Sacharow. Sacharow, wichtiger Akteur des ungeheuren Aufschwungs der Naturwissenschaft und Technik in der Sowjetunion in den 1950er und 1960er Jahren, nach Kritik am Einmarsch der Sowjetunion in die ČSSR 1968 in Ungnade gefallen, gestorben mitten im Umbruch im Dezember 1989, plädierte bereits 1974 für eine »Annäherung des  sozialistischen und des kapitalistischen Systems«, die »mit der Entmilitarisierung, der Festigung des internationalen Vertrauens, dem Schutz der Menschenrechte, des Gesetzes und der Freiheit, mit einem tiefen sozialen Fortschritt und der Demokratisierung« sowie »der Festigung der ethischen und geistigen Qualitäten des Individuums« einhergehen müsse (1990, 113). Aus dem zu  erwartenden »umfassenden Einsatz der Kybernetik« schloss er nicht nur auf einen »enormen Grad an Automatisierung und Flexibilität der Produktion je nach Bedarf der Gesellschaft«, sondern auch auf die »Perspektive eines Weltinformationssystems (WIS)«. Dieses freilich dürfe, da es »individuelle Kleingeräte zum Einholen von Informationen« einschließe und somit »einem jeden Interessenten maximale Freiheit bei der Wahl der Informationen« biete, kein beliebiges sein, sondern müsse »individuelle Engagiertheit« voraussetzen (114). Das »oberste Gebot« des Fortschritts bestehe »nicht nur darin […], alle zur Welt gekommenen Menschen vor unnötigem Leiden und einem frühzeitigen Tod zu schützen, sondern in der Menschheit alles Menschliche zu bewahren – die Freude der unmittelbaren Arbeit mit geschickten Händen und einem klugen Kopf, die Freude der gegenseitigen Hilfe und eines verständnisvollen Umgangs mit den Mitmenschen und der Natur, die Freude des Erkennens und der Kunst« (115).


Eine andere dieser Stimmen ist die des Astrophysiker Fang Lizhi. Auch er ein herausragender Akteur des sozialistischen Aufbaus – in der VR China –, auch er durch politische Kritik in Ungnade gefallen. 1990 sieht er als eine Voraussetzung für die Lösung der »Weltprobleme«, sie »von einer Weltperspektive aus« zu betrachten (119); »die Menschheit« werde schon »in allernächster Zukunft« Albert Einsteins »Ideen des Weltbürgertums […] annehmen und den Patriotismus als engstirnig erkennen« (121). Darin trifft er sich mit Willy Brandt, der eine »vorrangige Aufgabe« darin sieht, »ein menschenwürdiges Leben für alle Weltbürger« zu sichern (125), wozu es »statt neuer Etiketten […] funktionstüchtiger Institutionen« bedürfe, »die regionale und internationale Zusammenarbeit regeln« (126), etwa eines »für Umweltfragen zuständigen Sicherheitsrates mit Sanktionsrechten« (127). Auch das Soziale hat Brandt im Blick: Wenn es in Europa nicht »auf absehbare Zeit« zu einem das »Wohlstandsgefälle« mildernden »Ausgleich« käme, würden »wir […] mit wahren ›Völkerwanderungen‹ konfrontiert werden«. Und weiter: »Allerdings wären eurozentrische Verhaltensweisen kurzsichtig. Europa kann sich nicht vom Rest der Welt abschotten.« (123)


Eine direkte Verbindung zwischen der sowjetischen Perestroika und der Lösung der Weltprobleme knüpfte im Januar 1989 Gro Harlem Brundtland auf dem World Economic Forum in Davos. »Zu einer Zeit«, sagte sie, »da die herkömmlichen Konzepte, vor allem in der Sowjetunion und in Osteuropa, gründlich überdacht werden, müssen auch wir in der westlichen Industriewelt […] für neue Wege und neue Ideen zur Lösung gemeinsamer Probleme bereit sein. Für Selbstzufriedenheit ist die Zeit dahin. Es geht um eine weltweite Perestroika.« (1990, 129) Als deren Bestandteile will sie sehen, dass endlich mit einer Situation Schluss gemacht wird, in der »trotz aller Erfahrungen der Geschichte […] zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution nach wie vor Millionen von Menschen die grundlegenden Menschenrechte vorenthalten« werden, ihnen »in vielen Fällen« sogar »das Recht zu leben abgesprochen« wird (ebd.); sie fordert, »die Belagerungswirtschaft durch eine weltweite Friedenswirtschaft [zu] ersetzen« (130), »gleiche wirtschaftliche Chancen [zu] schaffen« (131) und einen »›Marshallplan‹ für die ärmeren Nationen in der Entwicklungswelt, vor allem in Afrika«, in Gang zu setzen (134). Zur Rettung des »Weltklimas« müsse »sofort« gehandelt werden (136). Ein Jahr darauf, im Januar 1990 – die Sowjetunion existiert noch – sprach Michail Gorbatschow in Moskau vor dem Globalen Forum für die Probleme der Umwelt und der Entwicklung der Menschheit darüber, dass »wir […] gegen Ende des 20. Jahrhunderts […] eine außerordentlich akute Krise in den Beziehungen Mensch, Gesellschaft und Natur [erleben]«, und erinnerte an die Mahnung »einiger großer Denker«, wonach »das Menschengeschlecht […] sich selbst umbringen [kann], wenn es die Pflanzen- und Tierwelt vernichtet, Erde, Luft und Gewässer vergiftet« (141). Um dies zu verhindern, gehe es um »die Dreieinigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse, einer humanistischen Vernunft und der gesamtmenschheitlichen Moral« (149).

Sozialismus oder Barbarei

Mitten hinein in all diese Hoffnungen und Pläne stießen im Januar 1991 die USA mit ihrem Krieg gegen den Irak und gleichzeitig die NATO unter entschiedener Beteiligung des gerade vereinten Deutschland mit ihrer den Zerfall Jugoslawiens beschleunigenden, die Bürgerkriege nicht eindämmenden und 1999 in offene Kriegsbeteiligung mündenden Politik. Der Kapitalismus war nicht mehr durch ein Gegensystem gezähmt, und sofort lebte er die neue Situation – die wieder die alte war – ungehemmt aus. Er kappte die zarten Triebe eines gesamt-menschheitlichen Verarbeitens der Kriegs- und Konflikt-, aber auch der Entspannungserfahrungen des 20. Jahrhunderts. Das Angebot des sterbenden sowjetischen Sozialismus, sein revolutionäres Erbe nicht durch ein starrsinniges Festhalten am Alten, nicht durch seine Sonderinteressen, sondern durch ein Öffnen des Fensters hin zur menschheitlichen Lösung der globalen Probleme zu bewahren, wurde rücksichtslos zurückgewiesen.


Die sowjetische Perestroika in eine globale Perestroika zu transformieren – diese Idee wurde dem Vergessen überantwortet. Die Rolle der UNO und der anderen großen internationalen Organisationen wurde immer weiter geschwächt. Der seit Jahrzehnten schwelende und immer wieder in Eruptionen mündende Nahostkonflikt ist einer Lösung keinen Deut nähergekommen. Auf den ersten Irakkrieg folgte Anfang des 21. Jahrhunderts ein zweiter; dem mit diesen Kriegen herbeigeführten Zerfall des Irak folgte der Zerfall Libyens, Syriens, des Sudan und anderer; seit 2001 führen die USA und ihre Verbündeten einen »Krieg gegen den Terror«, mit dem Afghanistan und ganze Regionen Pakistans in dauerndem Kriegszustand gehalten werden und in dem die Bombardierung und das gezielte Töten mittels Drohnen »legitim« geworden sind.


Es ist kein Ende abzusehen. Krieg, Gewalt und Drohung mit beidem sind wieder Alltag in den internationalen Beziehungen. Und dabei kommt es zu erstaunlichen »Neuauflagen«. So insbesondere im Verhältnis des westlichen Imperialismus zu Russland. Es erscheint heute der Systemkonflikt 1917–1990 nur als ein einzelner Abschnitt in einer viel länger dauernden, diesen Abschnitt überwölbenden Epoche geopolitischer Konkurrenz. Der westliche Imperialismus erwies sich als so unwillig wie unfähig, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gegebene Chance zu einer gesamtmenschheitlichen Lösung der Probleme zu nutzen. Er fiel in die alten geopolitischen Schemata zurück, und indem er heute Truppen mit schwerem Kriegsgerät im Baltikum und in Polen – so dicht an den russischen Machtzentren wie seit dem Ende der Interventionskriege 1921 nicht mehr – stationiert, Wirtschaftssanktionen verhängt und einen Propagandakrieg inszeniert, wie er nicht nur an die Hochzeiten des Kalten Krieges, sondern an die antisowjetischen Tiraden des Nazi-Faschismus erinnert, hat die Kriegsgefahr eine neue Dimension.


Leben wir am Abgrund jenes »Rückfalls der bürgerlichen Gesellschaft in die Barbarei«, als den Rosa Luxemburg 1916 den Weltkrieg sah? Von dem sie fürchtete, dass er erst den Anfang bilden könnte für eine »Periode der Weltkriege«, die, wenn sie »ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte«, die »Vernichtung der Kultur« bedeuten würde (GW 4, 62). Die Frage ist offen; ihre Beantwortung äußerst schwierig. Rosa Luxemburg war – wie Lenin und viele andere (vgl. das Benjamin-Zitat am Beginn dieses Aufsatzes) – davon überzeugt, dass das Proletariat als Klasse und als Teil einer noch weit über sich selbst hinausgreifenden Massenbewegung die Kraft und den Willen haben könne, diesem Imperialismus in den Arm zu fallen. »Die Zukunft der Kultur und der Menschheit«, schrieb sie, »hängt davon ab, ob das Proletariat sein revolutionäres Kampfschwert mit männlichem Entschluss in die Waagschale wirft.« (Ebd.)


Jedoch zeigt die Geschichte, dass die Bewegung der Massen zur Durchsetzung ihrer Interessen keineswegs automatisch oder notwendig eine sozialistische, fortschrittliche ist, sondern – solange Privateigentum und Gruppeninteressen (nationale, religiöse, rassistische) herrschen – auch eine nationalistische, faschistische sein kann; und dass sich – wie es im faschistischen Deutschland am konsequentesten und mit der verheerendsten Wirkung geschehen ist - der bürgerliche Machtblock solcher Massenbewegung nur allzu gern bedient und sie auf vielerlei Weise befördert, wenn es ihm für die Bewahrung des Privateigentums notwendig erscheint. »Die große Wahrheit unseres Zeitalters« – zitiert Ernst Bloch in Das Prinzip Hoffnung vehement bejahend Bertolt Brecht –, »(mit deren Erkenntnis noch nicht gedient ist, ohne deren Erkenntnis aber keine andere Wahrheit von Belang gefunden werden kann), ist es, dass unser Erdteil in Barbarei versinkt, weil die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln mit Gewalt festgehalten werden.« (1959, Bd. 3, 466; vgl. Brecht [1935], 1993, GA 22.1, 88)


Die Logik der Eigentumsverhältnisse. Auch Max Horkheimer rückte sie 1939 in den Mittelpunkt, als er sich mit denjenigen Kapitalismuskritikern auseinander setzte, die der Auffassung waren, dass, »weil die Weltrevolution nicht eintrat«, nun auch »die theoretischen Gedanken nichts wert« seien, »nach denen sie als Rettung aus der Barbarei erschien«: »Jetzt, da es wirklich so gekommen ist, da Harmonie und Progressionsmöglichkeit der kapitalistischen Gesellschaft sich als die Illusion entlarven, die die Kritik der freien Marktwirtschaft seit je denunzierte, da trotz und wegen des technischen Fortschritts die Krise, wie vorausgesagt, permanent geworden ist und die Nachfahren der freien Unternehmer ihre Stellung nur durch Abschaffung der bürgerlichen Freiheit behaupten können, jetzt preisen die literarischen Gegner der totalitären Gesellschaft den Zustand, dem sie ihr Dasein verdankt, und verleugnen die Theorie, die sein Geheimnis aussprach, als es noch Zeit war.« (GS 4, 308) Und weiter: »Der Faschismus ist die Wahrheit der modernen Gesellschaft, die von der Theorie von Anfang an getroffen war. Er fixiert die extremen Unterschiede, die das Wertgesetz am Ende produzierte.« (309)


Die selbstzerstörerische Tendenz des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Der »Umbau der Welt zur Heimat« – das Gegenteil der Selbstzerstörung - kann mit ihm nicht gelingen; er geht nur – so noch einmal Bloch - durch »die vergesellschaftete Menschheit im Bund mit einer ihr vermittelten Natur« (Das Prinzip Hoffnung Bd. 1, 312) Um die »vergesellschaftete Menschheit« geht es – nicht um die durch das Privateigentum gespaltene, fragmentierte, entfremdete.


Bloch – auch er zu denjenigen gehörend, die sich mit dem Sozialismus (in diesem Falle dem der DDR) dem Kapitalismus »weggenommen« hatten, dann aber von diesem verstoßen wurden und dennoch »weggenommen« blieben – stritt für jenen »militanten Optimismus«, mit dem, »wie Marx sagt, zwar keine abstrakten Ideale verwirklicht, wohl aber die unterdrückten Elemente der neuen, vermenschlichten Gesellschaft, also des konkreten Ideals, in Freiheit gesetzt« würden (217). Von solchem »militanten Optimismus« war Aitmatow 1992, ernüchtert durch die Entwicklung der Sowjetunion, aber auch durch die Unfähigkeit des Westens zu einer Neugestaltung der Welt, weit entfernt. Die Frage, die sich jetzt aufdränge, schrieb er, sei doch die: »Will die Menschheit überleben?« Und wenn das bejaht werde: »Warum setzt sie sich dann dieser unglaublichen Selbstvernichtung aus?« (322) Mit Erschrecken erfüllten ihn »die besessenen Menschenmassen, die zu allem bereit sind. Auch zum Atomkrieg.« (324)


Aitmatows Gegenüber Daisaku Ikeda vertrat in jenem Dialog der Umbruchszeit die Auffassung, es sei »wünschenswert«, die »beiden Weltzivilisationen« – gemeint waren die westliche und die östliche – »nicht gegeneinander zu stellen, sondern dialektisch zu vereinigen« (300). Dass es dazu bisher nicht gekommen ist, weist auf einen anderen Aspekt des Sich-Weggenommen-Habens hin. Das nach-sowjetische Russland und das nach-maoistische China haben sich, obwohl sie – in freilich je unterschiedlicher Weise – der kapitalistischen Produktionsweise Dominanz eingeräumt und sich in den (kapitalistischen) Weltmarkt eingeordnet haben, den Vorstellungen des Westens von einer von ihm beherrschten Weltordnung nicht unterworfen, und sie beharren darauf, dies auch in Zukunft nicht zu tun.


Wenn unter den Bedingungen der daraus erwachsenden Rivalität nicht alle Möglichkeiten eines friedlichen Ausgleichs geprüft und genutzt werden, wird Brecht Recht behalten mit seiner Ahnung, wonach »der Menschheit […] Kriege [drohen], gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind«, und sie würden »kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden« (1952, GA 23, 216). Zur Vorbereitung der Kriege gehört die ideologische, die Konditionierung für die Akzeptanz des Krieges, für rassistische, nationalistische, glaubenskriegerische Anschauungen und Haltungen; und gehört auch das Vergessenmachen der Zeit der Einhegung des Kapitalismus.


Diese ist nichts Geringeres als ein menschheitsgeschichtliches Erbe. Der kapitalistische Sozialstaat nord- und westeuropäischer Prägung war nicht die Schöpfung einer Gruppe plötzlich besonders umverteilungsbereiter Kapitalisten, sondern Resultat der Einhegung des Kapitalismus durch den Realsozialismus. Er war – so grotesk das in den Ohren der Apologeten des Kapitalismus klingen mag – ein fernwirkendes Resultat der Oktoberrevolution. Und ein solches waren auch die Leistungen, die im systemübergreifenden Ringen um eine zukunftsfähige Weltordnung schon einmal erbracht worden sind.


Das Vergessenmachen dieses menschheitsgeschichtlichen Erbes funktioniert umso besser, je simpler und widerstandsloser der Sozialismus des 20. Jahrhunderts verteufelt und zur Ursache allen Übels erklärt werden kann. Insofern ist die immer wieder erneuerte Forschung nach den komplexen Ursachen und Wirkungen der Oktoberrevolution und die ebenso immer wieder erneuerte Erinnerung an sie ein unerlässlicher Beitrag zum Kampf dafür, dass die Ahnungen von der Selbstzerstörung der Menschheit nicht zur Wahrheit werden.


Literatur
Aitmatow, Tschingis, u. Daisaku Ikeda, Begegnung am Fudschijama. Ein Dialog, a. d. Russ. v.
Friedrich Hitzer, Zürich 1992
Benjamin, Walter, »Einbahnstraße« (1928), Gesammelte Schriften, hgg. v. Rolf Tiedemann u.
Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde., Frankfurt/M 1972-89, Bd. IV.1, 83-148
ders., »Über den Begriff der Geschichte« (1940), Bd. I.2, 691-704
Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Berlin/DDR 1954–59
Brandt, Willy, »Chancen und Aufgaben internationaler Zusammenarbeit«, in: Giger 1990, 122-127
Brecht, Bertolt, »Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit« (1935), Werke. Große
kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (GA), hgg. v. Werner Hecht u.a., Berlin u.a.
1993, Bd. 22.1, 74-89
ders., »Zum Kongress der Völker für den Frieden« (1952), GA 23, 215f
Giger, Andreas (Hg.), Eine Welt für alle. Visionen von globalem Bewusstsein, Rosenheim 1990
Gorbatschow, Michail, »Die Ökologisierung der Politik im gemeinsamen Haus Erde«, a. d.
Russ. v. Valeri Kusawljow, in: Giger 1990, 141-149
Harlem Brundtland, Gro, »Die globale Perestroika. Schwerpunkte für die neunziger Jahre«
(1989), a. d. Engl. v. Peter Mühlschlegel, in: Giger 1990, 128-140
Horkheimer, Max, »Die Juden und Europa«, (1939), in: ders., Gesammelte Schriften, hgg. v.
Schmidt, Alfred u. Gunzelin Schmid Noerr, Bd. 4, Frankfurt/M 1988, 308-331
[Kant, Hermann], »Hermann Kant«, in: Germanica, Villeneuve d’Ascq, H. 44, 2009, 177f
Kraus, Karl, Die letzten Tage der Menschheit (1915–1921), Frankfurt/M 1986
Luxemburg, Rosa, »Krise der Sozialdemokratie« (1916), Gesammelte Werke, Berlin/DDR
1974, Bd. 4, 49-164
Sacharow, Andrej, »Die Welt in 50 Jahren« (1974), a. d. Russ. v. Valeri Kusawljow, in: Giger
1990, 111-15